Objekt des Monats
Jedes Objekt in der Sammlung des Deutschen Auswandererhauses erzählt eine ganz persönliche Auswanderungs- oder Einwanderungsgeschichte. In dieser Rubrik stellen wir Ihnen jeden Monat ein anderes Objekt vor – eine Fotografie, ein Dokument oder ein persönliches Erinnerungsstück.
Oktober 2023
Gedicht und Karikatur (Ausschnitt Zeitschrift), 1880
Material | Zeitungsgrafik (Papier, Drucktinte) |
Dauerleihgeber:in | Initiativkreis Deutsches Auswandererhaus e.V. |
Erschienen in | Über Land und Meer. Allgemeine Illustrirte Zeitung |
Historische Einordnung
Die Zeitschrift „Über Land und Meer“ war eine zwischen 1858 und 1923 wöchentlich in Stuttgart erscheinende illustrierte Zeitschrift mit vorwiegend Unterhaltungscharakter. In der ersten Ausgabe formulierte die Redaktion als ihr Programm, in Reaktion auf die neuen technischen Leistungen des Telegraphen das Lesepublikum „durch Bilder-Telegramme mit allen Welttheilen zu verbinden“: „Was der erfinderische, entdeckungskühne Genius unseres Jahrhunderts denkt und schafft, soll das Gemeingut der Leser werden, die mit uns auf der Höhe der Zeit bleiben wollen.“ Gemäß dem Zeitungstitel „soll der Leser mit uns wandern und segeln, und was er mit uns schaut, wollen wir mit dem goldenen Rahmen des Wortes umfassen“. Wortreich begründete die Redaktion die Notwendigkeit eines neuen ‚Bilderblatts‘:
„Seit das Reisen sich zum Flug durch weite Länderstrecken umgestaltet, seit der Erdball sich mit einem eisernen Schienenbande umgürtet hat, seit die Meere von zahllosen Riesendampfern durchfurcht werden, seit die größte Erfindung des Jahrhunderts uns erlaubt, selbst dem kühnsten Reisenden noch die Gedanken vorauszuschleudern, seit man unter schäumenden Wogen des Meeres die Länder durch gigantische Taue verbindet, Riesennerven gleich, die den getrennten Organismus des Colosses verbinden, um jede Idee allen Theilen des gewaltigen Erdkörpers zu gleicher Zeit mitzutheilen, seit die endlosen Flächen der Wüste, die Palmenwälder Indiens, die Eisregionen des Nordens, die Urwälder Amerikas keine Entfernung mehr für uns bieten, hat die Literatur einen Umschwung erlebt, wie nie zuvor und vielleicht nie wieder.“
Mitte der 1880er Jahre war das Blatt mit einer Auflage von 130.000 Exemplaren tatsächlich recht weit verbreitet und verzeichnete unter anderem mit Theodor Fontane, Karl May und Wilhelm Raabe auch noch heute bekannte Schriftsteller als ihre Beiträger.
Bedeutung des Objekts
Ganzseitig umrankt die „Originalzeichnung“ des Münchener Grafikers Carl Stauber (1815-1902) ein Gedicht des ebenfalls in München ansässigen Schriftstellers Franz Trautmann (1813-1887). Betitelt mit „Die Auswanderer“, zitiert es das bereits im 19.Jahrhundert klischeehafte Migrationsmotiv der Suche nach dem „holde[n], glückliche[n], schön’re[n] Leben“. Doch wie vollends die Bildwelt deutlich macht, handelt es sich bei dem Beschriebenen um eine ‚verkehrte Welt‘: Die hier auswandern, sind nicht wie in den 1880er Jahren, der Zeit der massivsten Auswanderung aus dem Deutschen Kaiserreich, Menschen, die es in die industrialisierten US-amerikanischen Städte zieht. Sondern ihr genaues Gegenteil: Hier fliehen die Bewohner:innen der gefällten Wälder, der Berge und Schächte – die Zwerge, Schrate, Riesen – vor der Industrialisierung mit ihren Fabriken, Eisenbahnen, Dampfern. Was die menschlichen Auswander:innen aus ihren Geburtsorten in Deutschland und an ihre Wahlstätten in Übersee brachte, lässt jene Wesen der deutschen Märchen- und Sagenwelt zu Emigranten in ein Nirgendwo werden. An sich vielleicht eine belanglose technikkritische Pointe, erhält die Karikatur angesichts des Veröffentlichungsortes doch einen ganz eigenen Witz: Hatte sich die Zeitschrift in ihrer Programmatik betont technikaffin und „auf der Höhe der Zeit“ gegeben, bezeichnet die Karikatur eine Konsequenz daraus: Wer „Bilder-Telegramme mit allen Welttheilen [...] verbinden“ will, kann nicht gleichzeitig seine Sinnbilder (allein) aus dem nationalen Fundus schöpfen. Migration erweist sich so auch dort, wo sie nur in karikierender Absicht als Motiv zitiert wird, als von reflexiv-subversivem Charakter.
Kurzbiographie des Dauerleihgebers
Nachdem sich bereits 1985 engagierte Bremerhavener Bürger:innen zu dem Zweck zusammengeschlossen hatten, an authentischem Ort die Einrichtung eines Museums zur Auswanderungsgeschichte anzuregen, gründeten 1998 Bremerhavener Unternehmer:innen und Politiker:innen den „Initiativkreis Erlebniswelt Auswanderung“, um diesem Zweck verstärkt politischen Nachdruck zu verleihen. Als dann 2005 das Deutsche Auswandererhaus eröffnet wurde, übergab der nun in „Initiativkreis Deutsches Auswandererhaus e. V.“ umbenannte Verein dem Museum die umfangreiche und bedeutende Grafiksammlung, die in zwanzig Jahren zusammengetragen worden war. Sie liegt heute als Dauerleihgabe in der Sammlung des Museums.
Haben auch Sie …
… eine Aus- oder Einwanderungsgeschichte Ihrer Familie zu erzählen und möchten diese mit den dazugehörigen Objekten und Dokumenten dem Deutschen Auswandererhaus für seine Sammlung übergeben? Dann kontaktieren Sie bitte Dr. Tanja Fittkau unter der Rufnummer 0471 / 90 22 0 – 0
oder per E-Mail unter: t.fittkau@dah-bremerhaven.de