Inge Behrmann
* 1931 in Balga (Ostpreußen, damals Deutsches Reich, heute Russland)
Ankunft in Bremerhaven: 1948
„Wir sind alle durchgekommen, weil wir solche Mütter hatten.“
Am 18. Januar 1948 kommt Inge Behrmann, damals Thiel, mit dem Zug in Bremerhaven an. Eine Last sei von ihr genommen, sagt sie heute, mehr als 70 Jahre später, wenn sie nach ihrem ersten Eindruck von Bremerhaven gefragt wird. Von der langen Zugfahrt, die sie von Coburg in Bayern nach Bremerhaven gebracht hat, erinnert sie nichts mehr – sie habe die ganze Fahrt über geschlafen. Es ist nachgeholter Schlaf – die Nacht davor hat die Sechzehnjährige mit ihrer Mutter die Grenze zwischen Amerikanischer und Sowjetischer Besatzungszone bei Coburg überquert, irregulär natürlich. Mit dem jungen Grenzhelfer, dem Inges Mutter all ihr restliches Geld übergeben hat, ist ihnen gelungen, was Ende 1947 noch gescheitert war: die Flucht in den Westen. In Coburg sieht Inge ihren Vater zum ersten Mal nach drei Jahren wieder. Verständigt über den Fluchtplan, ist er aus Bremerhaven, wo er Unterkunft und Arbeit hat, nach Coburg gekommen, um Frau und Tochter abzuholen und mit in den Norden zu nehmen.
Das letzte Mal haben sich die drei in ihrem Heimatort Balga in Ostpreußen gesehen, im Januar 1945. Damals ist die Front schon sehr nah an die Ortschaft am Frischen Haff gerückt. Inges Vater, der als Seemann im Krieg bei der Bergung versenkter Schiffe eingesetzt ist, drängt die Familie, mit ihm an seinen Einsatzort nach Nordwestdeutschland zu gehen. Noch aber bringt es Inges Mutter nicht übers Herz, das Haus in Balga zu verlassen. Erst Anfang Februar bleibt kein anderer Ausweg, um den Kriegshandlungen zu entgehen – in Begleitung der drei Schwestern ihrer Mutter sowie deren Kindern begeben sie sich mit einem von zwei Pferden gezogenen Ackerwagen auf die Flucht. In Winterkälte über oft brüchiges Eis hinweg schaffen es die acht Fliehenden nach Danzig – wo es ihnen aber nicht gelingt, auf ein Schiff Richtung Westen aufgenommen zu werden. So müssen sie den Kampf um Danzig mit all seinen Schrecken miterleben. Nach der Einnahme durch die Russische Armee ist die weitere Flucht Richtung Westen nicht mehr möglich. Um dem Hunger in der besetzten Stadt zu entgehen, entschließt sich die Gruppe, wieder nach Balga zurückzukehren. Nach zehn Tagen Fußmarsch stehen sie in einem komplett zerstörten Ort. Von ihrem, den schweren Kämpfen zum Opfer gefallenen Haus bewahrt Inge Behrmann bis heute einen Stein.
Inge Behrmann
Es beginnen Monate des Hungers und der Krankheit in Rosenberg und Heiligenbeil. Gegessen werden muss manchmal, „was man so auf dem Boden fand“. Inges Mutter kann durch Arbeiten als Schneiderin immer wieder Mahlzeiten für sich und ihre Tochter beschaffen. Inge, die auch aufgrund mehrerer schwerer Krankheiten bis auf die Knochen abmagert, fasst die Zeit mit den Worten zusammen: „Wir sind alle durchgekommen, weil wir solche Mütter hatten.“ Die Zeit in Heiligenbeil endet abrupt: Ende 1946 müssen sich die dort verbliebenen Deutschen von einem Tag auf den anderen mit Gepäck am Bahnhof einfinden, um mit dem Zug über Königsberg nach Erfurt gebracht zu werden.
In Erfurt erlebt Inge zum ersten Mal wieder so etwas wie normalen Alltag: Sie wohnt mit ihrer Mutter in einer zugeteilten Wohnung und beginnt eine Lehre als Verkäuferin in einem Juweliergeschäft. Trotzdem zieht es die beiden aus Erfurt fort: In Bremerhaven wartet ja ihr Vater und Ehemann auf sie … Fast ein Jahr sollte es währen, bis sich die drei in Coburg endlich wiedersehen.
In Bremerhaven wohnt Inge in der Moltkestraße zunächst bei ihren Eltern. Schon bald lernt sie ihren Mann Werner kennen, mit dem sie nach der Heirat zusammenzieht. 1962 beziehen die beiden mit ihren drei Kindern ihr eigenes Haus in Leherheide. Dort hängt neben vielen Fotos und Stichen auch ein nach einem Foto angefertigtes Gemälde von Inge Berhmanns Kindheitshaus in Balga.
„Ich denke immer noch gelegentlich an mein Zuhause von früher“, sagt sie.
Zuhause, ihre Heimat, das ist Balga am Frischen Haff immer geblieben. Aber in Bremerhaven, auch ein Ort „am Wasser“, habe sie sich immer wohlgefühlt – von Anfang an. Es ist der Ort geworden, der es ihr ermöglicht hat, wie sie sagt, „wieder ein normaler Mensch zu werden“.