Objekt des Monats

Jedes Objekt in der Sammlung des Deutschen Auswandererhauses erzählt eine ganz persönliche Auswanderungs- oder Einwanderungsgeschichte. In dieser Rubrik stellen wir Ihnen jeden Monat ein anderes Objekt vor – eine Fotografie, ein Dokument oder ein persönliches Erinnerungsstück.

April 2018

Bescheinigung über den Status als Kontingentflüchtling für O(E)lena Fridrih aus dem Jahr 1993

Material

Papier

Maße

DIN A4

Schenkung

Elena Fridrih und Nadja Usova

Kontingentfluechtling-COPYRIGHT-Sammlung-Deutsches-Auswandererhaus

Historische Einordnung

Am 26. April 1986 ereignet sich in der Sowjetunion der bis dahin schwerste Unfall in der Geschichte der Kernenergie. Im Atomkraftwerk von Tschernobyl kommt es zum Super-GAU, zwei Explosionen zerstören einen von vier Reaktorblöcken. Radioaktives Material wird in die Atmosphäre geschleudert, weite Teile von Russland, Weißrussland und der Ukraine sind verseucht. Eine radioaktive Wolke verteilt sich auch über Mitteleuropa. Mehr als 300.000 Menschen werden aus der direkten Umgebung des Reaktors umgesiedelt. Bei der im rund 50 Kilometer entfernten Kiew lebenden Physikerin Elena Fridrih lösen der Unfall und die damit einhergehende Bedrohung durch radioaktive Strahlung blankes Entsetzen und Angst aus. Sie sorgt sich um das Leben und die Zukunft ihrer Kinder, fühlt sich zudem von der Regierung belogen, denn diese hält der Bevölkerung Informationen über das Ausmaß des Unglücks vor. Verzweifelt sucht Elena nach einer Möglichkeit, mit ihrer Familie das Land zu verlassen. Ein Ausweg öffnet sich ihr schließlich im Januar 1991 – nicht aufgrund des atomaren Unfalls, sondern weil ihr Vater Jude ist; denn von 1991 bis 2004 nimmt die BRD jüdische Zuwander:innen aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion auf Basis des Kontingentflüchtlingsgesetzes auf. Die Bescheinigung der Stadt Gelsenkirchen aus dem Jahr 1993 bestätigt Elenas Status als Kontingentflüchtling.

Kurzbiographie

Elena Fridrih ist 44 Jahre alt, als sie aus der Zeitung „Komsomolskaja Pravda“ erfährt, dass Juden und Personen mit jüdischen Vorfahren aus der ehemaligen Sowjetunion als Kontingentflüchtlinge nach Deutschland einreisen dürfen. Umgehend beantragt sie die Ausreisegenehmigung für sich und ihre Familie. Nach langwierigen und umständlichen Formalitäten ist es geschafft: Elena, ihr Ehemann Jurij, die Kinder Andrij und Nadja sowie Terrier Irik besteigen ein Flugzeug nach Deutschland. Im Dezember 1992, wenige Tage vor Weihnachten, landet die Familie in Frankfurt am Main. Die ersten Tage verbringen die Fünf in einem Flüchtlingsheim in Unna, dann werden sie in ein Wohnheim nach Gelsenkirchen weitergeschickt. Das Ankommen fällt den beiden Akademiker:innen und ihren Kindern nicht leicht. Alles ist fremd, und vor allem die deutsche Sprache bereitet ihnen zunächst Schwierigkeiten. Elena und ihr Mann besuchen einen Deutschkurs, doch trotz sprachlicher Fortschritte und obwohl die Diplome der beiden Physiker in NRW anerkannt werden, finden sie keine Anstellungen. So ergreift Elena das erste Angebot, das sie vom Arbeitsamt bekommt und absolviert eine Ausbildung zur Altenpflegerin. Auch Jurij muss schließlich einsehen, dass ihm eine universitäre Laufbahn in Deutschland verwehrt zu bleiben scheint. Er macht einen Taxischein und verdient sein Geld fortan mit dem Transport von Fahrgästen. Heute sind beide Ehepartner in Rente. Ihren Entschluss, nach Deutschland zu gehen, haben sie trotz aller Schwierigkeiten nie bereut. Für Elena stand immer die Rettung ihrer Kinder im Vordergrund. Rückblickend sagt sie: „Meine Kinder sind zu intelligenten und kritischen Menschen herangewachsen, die ihre Möglichkeiten kennen und sie auch nutzen. Hier können sie selbst über ihr Leben bestimmen!“

Bedeutung des Objekts

Das Dokument ist ein Beleg für den Status von Elena Fridrih, der ihr die Einreise nach Deutschland ermöglichte und stellt somit eine wichtige Informationsquelle nicht nur für die aktuelle, sondern auch die kommende Migrationsforschung dar. Der darin enthaltene Verweis auf Rechtstellung und Gesetz ermöglichen die Rekonstruktion der zum Zeitpunkt der Ausstellung bestehenden Einreisemodalitäten. Aufgrund der individuellen Wanderungsgeschichte von Elena Fridrih ist die Bescheinigung zugleich ein persönliches Erinnerungsstück. Während Elena in der Sowjetunion aufgrund ihres jüdischen Vaters zu einer diskriminierten Minderheit gehörte, war es der Glaube ihres Vaters, der ihr als Kontingentflüchtling schließlich ermöglichte, die infolge des atomaren Unfalls herrschende Angst und Bedrohung hinter sich zu lassen. In Deutschland konnte sie ihren Kindern nicht nur eine bessere, sondern vor allem eine sicherere Zukunft bieten. Dafür waren sowohl sie als auch ihr Mann bereit, viel zu opfern: Karriere, Anerkennung, soziale Netzwerke.

Haben auch Sie …

… eine Aus- oder Einwanderungsgeschichte Ihrer Familie zu erzählen und möchten diese mit den dazugehörigen Objekten und Dokumenten dem Deutschen Auswandererhaus für seine Sammlung übergeben? Dann kontaktieren Sie bitte Dr. Tanja Fittkau unter der Rufnummer 0471 / 90 22 0 – 0 oder per E-Mail unter: t.fittkau@dah-bremerhaven.de

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