Objekt des Monats

Jedes Objekt in der Sammlung des Deutschen Auswandererhauses erzählt eine ganz persönliche Auswanderungs- oder Einwanderungsgeschichte. In dieser Rubrik stellen wir Ihnen jeden Monat ein anderes Objekt vor – eine Fotografie, ein Dokument oder ein persönliches Erinnerungsstück.

April 2021

Notizbuch / Manuskript (und Typoskript), 1990er Jahre

zum National Poetry Month (USA)

 Notizbuch/Manuskript

Material

Pappe, Papier, Metall

Maße

21,3 cm (40,5 cm offen) x 27 cm

Schenkung

Jenny Mueller

Manuskript-COPYRIGHT-Sammlung-Deutsches-Auswandererhaus

© Sammlung Deutsches Auswandererhaus

Typoskript

Material

Papier

Maße

21,5 cm x 28cm

Schenkung

Jenny Mueller

Typoskript-COPYRIGHT-Sammlung-Deutsches-Auswandererhaus-1630941113

© Sammlung Deutsches Auswandererhaus

Historische Einordnung

Mit 29 Jahren beginnt Lisel Mueller Gedichte zu schreiben und erhält im Laufe ihres Lebens viele wichtige Preise für ihr Werk, darunter der Pulitzer-Preis für Dichtung im Jahr 1997 für ihren Gedichtband Alive together: New and selected Poems. Darin führt sie neue und ausgewählte Gedichte aus allen Schaffensphasen zusammen. Anders als in den USA ist sie in Deutschland nie bekannt gewesen. Gemeinsam mit taz-Reporter Benno Schirrmeister widmete das Deutsche Auswandererhaus im Jahr 2019 dem Leben und Werk Muellers die Sonderausstellung „So far, so good.“ Die vergessene Pulitzer-Preisträgerin Lisel Mueller.

Den mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichneten Gedichtband eröffnet Mueller mit ihrem Gedicht Curriculum Vitae. Dieses Gedicht, in Form eines nummerierten Lebenslaufs verfasst, lag der Ausstellung zu Grunde und wurde „begehbar“ gemacht: Anhand der von ihr benannten Stationen im Gedicht erfuhren Besucher:innen mehr über Muellers Biographie und Familiengeschichte: Wer waren die „monsters“, denen ihr Vater entkommen musste? Wer machte Englisch zur Sprache „of love“? Zugleich wurden weitere ihrer Gedichte vorgestellt, die sich mit diesen Stationen intensiv beschäftigen: der Migration in die USA zum Beispiel, dem Leben während eines Krieges oder der Geburt der Kinder.

Das Deutsche Auswandererhaus konnte sich gleich zweifach dem Leben und Werk Muellers annähern. Einerseits über ihre Migrationsbiographie, zum anderen über ihre Dichtung, in der auch migrationsspezifische Thematiken wiedergefunden werden können, wie Fremdheitserfahrungen, Spracherwerb, Rückkehrwünsche oder Erinnerungen an das Herkunftsland.

Kurzbiographie Lisel Mueller

Lisel Mueller wird 1924 als Elisabeth Annelore Neumann in Hamburg geboren. Ihr Vater ist der politisch engagierte Reformpädagoge Fritz C. Neumann, der nach der nationalsozialistischen Machtergreifung aus dem Schuldienst entlassen wird. 1937 reist er für eine befristete Anstellung in die USA. Am Evansville College in Indiana erhält er 1938 eine Festanstellung – Elisabeth Annelore Neumann, ihre Mutter Ilse und ihre Schwester Ingeborg ziehen nach.

Elisabeth beginnt in den USA Soziologie zu studieren und lernt auf dem Campus ihren zukünftigen Ehemann Paul E. Mueller kennen. Einige Jahre später immatrikuliert sie sich an der Indiana University in Bloomington und studiert Vergleichende Literaturwissenschaft. Die Auseinandersetzungen mit der Erzähl- und Märchenforschung wird später in ihren Gedichten erkennbar werden. Als 1953 ihre Mutter stirbt, zieht sie gemeinsam mit ihrem Ehemann Paul zu ihrem verwitweten Vater. Den Tod der Mutter benennt sie oft als Ausgangspunkt für ihr dichterisches Schaffen. Das Schreiben eignet sie sich im Selbststudium an. In ihrem Essay Learning to play by ear schildert sie die Anfänge:

„But now i began my training, which consisted of reading all the volumes of poetry and little magazines i could lay my hands on, teaching myself to read for instruction as well as pleasure, and setting myself exercises. There were no creative writing classes and few handbooks on craft then. My apprenticeship at this stage was a matter of hit-and-miss, lucky hunches and wild goose chases, a game of hide-and-seek with the masters I was looking for.“

Vier Jahre später veröffentlicht sie ihr erstes Gedicht. 1958 und 1962 werden ihre Töchter Lucy und Jenny geboren. Sie beginnt als Lyrik-Rezensentin zu arbeiten und gründet das Chicago Poetry Center mit. 1976 verstirbt auch ihr Vater. Einige Jahre nach seinem Tod und als letzte ihrer Familie reist Lisel Mueller nach Deutschland. In ihrem Essay Return hält sie ihre Eindrücke fest:

„I am moved by the Alster, but when I stand in front of the red brick apartment building I lived in for six years, I feel only strangeness.“

Lisel Mueller verstarb am 21. Februar 2020 in Chicago.

Bedeutung des Objektes

Anhand Muellers Manuskript – und auch des Typoskriptes – können wir einen Teil der Entwicklung eines ihrer Gedichte nachempfinden. Das von Gewaltmigration, Kolonialismus und Fremdheitserfahrungen sprechende An extended question wird später, hier in ihrem Typoskript, zu An unanswered question. Zugleich wird uns durch den Druck, der auf voranschreitenden Seiten des Notizbuches immer stärker mit dem Stift ausgeübt wurde, bewusst, wie sich Muellers Augenerkrankung auf ihre Sehkraft auswirkte.

„Dear Ms. Mueller: I am delighted to confirm the award to you of the 1997 Pulitzer Price for Poetry“

(Auszug aus dem Gratulationsschreiben von George Rupp, Präsident der Columbia University New York, 7.4.1997)

Mehr als 30 Jahre nach der Veröffentlichung ihres ersten Gedichtbands erhält Lisel Mueller als bisher einzige in Deutschland geborene Dichterin den Pulitzer-Preis für Dichtung für ihren Gedichtband. Zuvor wurde sie unter anderem mit dem National Book Award, dem Lamont Poetry Prize und dem Carl Sandburg Prize geehrt. 2002 erhält sie den Ruth Lily Poetry Prize für ihr Lebenswerk. Mueller hat neben Übersetzungen ins Deutsche sieben Gedichtbände veröffentlicht.

Haben auch Sie …

… eine Aus- oder Einwanderungsgeschichte Ihrer Familie zu erzählen und möchten diese mit den dazugehörigen Objekten und Dokumenten dem Deutschen Auswandererhaus für seine Sammlung übergeben? Dann kontaktieren Sie bitte Dr. Tanja Fittkau unter der Rufnummer 0471 / 90 22 0 – 0 oder per E-Mail unter: t.fittkau@dah-bremerhaven.de

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