Objekt des Monats

Jedes Objekt in der Sammlung des Deutschen Auswandererhauses erzählt eine ganz persönliche Auswanderungs- oder Einwanderungsgeschichte. In dieser Rubrik stellen wir Ihnen jeden Monat ein anderes Objekt vor – eine Fotografie, ein Dokument oder ein persönliches Erinnerungsstück.

Dezember 2022

Schiffsmodell "Mayflower" , 1963/65

Größe

ca. 68 x 82 x 32

Material

Holz, Textil

Schenkung

Heike Schwarzwälder

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Historische Einordnung

Es ist Dezember 1620 und an der Küste Neuenglands, im Nordosten der heutigen USA, tost der Winter mit all seiner Macht über Meer und Land. In der Plymouth Bay im späteren Bundesstaat Massachusetts liegt ein einsames Schiff, an Bord sind 102 Passagier:innen nebst 30 Seeleuten, die in der Hoffnung auf ein neues Leben das heimatliche England verließen. Das Schiff trägt den Namen Mayflower und die Passagier:innen an Bord werden als sogenannte Pilger oder Pilgerväter in die Annalen der US-amerikanischen Geschichte eingehen.

Der feste Kern der Siedler:innen, unter Führung von William Bradford, gehört der Glaubensrichtung der Puritaner an. Die Puritaner sind eine Abspaltung der anglikanischen Kirche, die sich noch weiter von den als dekadent und unchristlich wahrgenommen Normen und Riten der römisch-päpstlichen Kirche abspalten wollen, um eine Art Urchristentum zu praktizieren. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts pflegt König James I. eine liberalere Haltung gegenüber religiösen Minderheiten als seine Vorgängerin Elisabeth I., jedoch führt die strikte Ablehnung staatlicher und weltlicher Obrigkeit der Puritaner dazu, dass diese Verfolgung und Diskriminierung ausgesetzt sind. Der Entschluss England zu verlassen steht fest und viele hundert Puritaner:innen suchen Asyl in den Niederlanden.

Auch die Gruppe der späteren Mayflower-Passagier:innen fliehen 1608 zunächst nach Amsterdam, um kurz darauf in Leiden sesshaft zu werden. Die Gruppe wächst weiter an, jedoch befürchten einige Mitglieder, dass sie in den Niederlanden ihre puritanische Identität verlören. Ein Teil entschließt sich dazu, die beschwerliche Atlantiküberquerung auf sich zu nehmen und in Nordamerika eine Kolonie aufzubauen, wo sie ihre religiösen Werte ausleben können. Zu diesem Zeitpunkt ist die Ostküste Nordamerikas bereits kartografiert und es existieren einzelne Kolonien, wie das 1607 gegründete Jamestown.

Nach mehreren Komplikationen legt die Mayflower am 16. September 1620 im englischen Plymouth ab. An Bord befinden sich 102 Passagier:innen, die sich in die Gruppen der Saints, die Glaubensgemeinschaft der Puritaner und Strangers, Kaufleute und Handwerker:innen aus England und den Niederlanden, aufteilen. Die Überfahrt dauert 66 Tage, schlechte Witterung, mangelhafte Versorgung und Krankheit machen die Reise zu einer Tortur für alle Beteiligten. Fünf Passagier:innen überleben die Atlantiküberquerung auf der Mayflower nicht. Im November 1620 erreichen sie Nordamerika, verfehlen allerdings Virginia und ankern zunächst vor Cape Cod. Da die frischgebackenen Siedler:innen kein Patent zur Landnahme für das Gebiet besitzen, unterzeichnen 41 Passagiere am 21. November 1620 den Mayflower Compact, mit diesem inoffiziellen Dokument möchte sich die Gruppe rechtlich absichern und den Zusammenhalt stärken.

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Nachdem auch die Erkundung des Hudson River, auf dem Gebiet des heutigen New York, durch winterliche Stürme vereitelt wird, entschließt man sich beim heutigen Plymouth/Massachusetts an Land zu gehen. Dort finden die ausgezerrten Siedler:innen verlassene Dörfer vor, in denen sie ihre Vorräte aufstocken können. Die Native Americans der Patuxet, einer Gruppierung der Wampanoag, siedeln bereits lange vor Ankunft der Europäer:innen auf dem Gebiet des heutigen Plymouth. Ihre Zahl wurde jedoch in Folge des Great Dying radikal dezimiert. Zehntausende Native Americans sterben an zuvor unbekannten Krankheiten, die von Siedler:innen ins Land gebracht werden, etwa Leptospirose, Gelbfieber, die Pocken und die Pest. Diese Tragödie wird von einigen der puritanischen Passagier:innen der Mayflower als göttliche Fügung aufgefasst, da man zum einen auf vorhandene Infrastruktur zugreifen kann und ihnen zum anderen keine geschlossene Opposition gegenübersteht.

45 der neuen Siedler:innen überleben den ersten Winter in der Plymouth Kolonie nicht. Ein Native American der Patuxet-Wampanoag namens Tisquantum (William Bradford nannte ihn kurz Squanto) nimmt Kontakt mit der Kolonie auf und teilt seine Kenntnisse des Fischfangs, Jagens und Ackerbaus mit ihnen.

Tisquantum vermittelt zwischen den Kolonist:innen und den Patuxet-Wampanoag. Seine Englischkenntnisse erlernte er, nachdem er und 26 weitere Männer 1614 vom englischen Kaufmann Thomas Hunt nach Europa entführt werden. Über England, Spanien und Neufundland findet Tisquantum schließlich wieder nach Nordamerika, wo er feststellen muss, dass die Wampanoag von Krankheit geschwächt und rivalisierenden indigenen Gruppen bedroht sind. Eine Allianz mit den neuen Siedler:innen erscheint daher fruchtbar, da man so Zugang zu militärischer Unterstützung erhält.

Im Herbst 1621 feiern die Siedler:innen ihr erstes überstandenes Jahr und die erste Ernte. Der Brauch des Erntedanks hat es von den Niederlanden bis über den Atlantik geschafft. Zu der Feier erscheinen ebenfalls 90 Native Americans der Wampanoag, samt deren Oberhaupts Massasoit. Der Mythos um das erste Thanksgiving zwischen Siedler:innen und Native Americans ist geboren.

Der Frieden zwischen den Parteien ist allerdings fragil, mit den Jahren wächst die Kolonie immer weiter und es erreichen neue Schiffe mit Siedler:innen das Land. Immer mehr Ländereien werden beansprucht und die angestammte Bevölkerung der Native Americans wird sukzessive vertrieben.

Mit Ausbruch des King Philip’s War im Juni 1675 endet die ungleiche Allianz und mündet in eine blutige Auseinandersetzung zwischen den Nachkommen der Mayflower-Passagier:innen und mehreren Gruppen der Native Americans.

Kurzbiographie

Heike Schwarzwälder, Frau des Bremer Stadt- und Heimatforschers Harry Schwarzwälder (1929-2019), hat dem Deutschen Auswandererhaus diese detailgetreue Nachbildung der Mayflower überlassen. Harry Schwarzwälder und sein Bruder Herbert Schwarzwälder haben sich wie kaum jemand, um die Geschichte Bremens und seiner Umgebung verdient gemacht. Harry Schwarzwälder arbeitete im Amt für Straßen- und Brückenbau und widmete auch seine Zeit als Historiker und „Chronist der Bremer Geschichte“ der Bremer Infrastruktur. Mehrere Male erhielt Harry Schwarzwälder den Bremer Preis für Heimatforschung und 2014 den Preis für sein Lebenswerk der Wissenschaftliche Gesellschaft der Freien Hansestadt Bremen. Er veröffentlichte diverse Artikel über regionale Geschichte im Bremischen Jahrbuch.

Sein Talent für den Modellbau zeigt Harry Schwarzwälder nicht nur an einem maßstabsgetreuen Nachbau der Jan-Reiners-Kleinbahn, sondern auch an diesem beeindruckenden Modell der Mayflower, das komplett aus eigener Hand stammt. Heike Schwarzwälder erinnert ihren damaligen Verlobten, wie er beim gemeinsamen Sitzen an der Weser die Segel für den bereits fertigen Schiffsrumpf händisch näht und bestickt. Das gesamte Modell entstand so Stück um Stück zwischen 1963 und 1965.

Bedeutung des Objekts

Modelle historischer Gebäude, Vehikel oder Schauplätze geben uns einen Eindruck davon, wie es in vergangener Zeit ausgesehen habe könnte. Mit Hilfe von Bauplänen, Zeichnungen, Fotografien und textlichen Beschreibungen lassen sich detaillierte Nachbildungen der Vergangenheit in die Gegenwart holen. Nicht nur für Museen, sondern auch für enthusiastische Modellbauer:innen ist es so möglich, ein Stück Geschichte (be)greifbar zu machen.

Die Modelle sind dabei eine Interpretation des Originals und beinhalten verschiedene Geschichten und Botschaften. Die Faszination für das Modell hat dabei ganz individuelle Wurzeln. Die Geschichte der Mayflower wurde in England beispielsweise erst im viktorianischen 19. Jahrhundert wiederentdeckt und als Abenteuer- und Liebeserzählung vermarktet. In der US-amerikanischen Geschichtsschreibung gehört die Mayflower und der Mythos der Pilgrim Fathers zu den Grundpfeilern der gesamten Nation, behaupten sich hier doch die Vorfahren aller US-Amerikaner:innen gegen mannigfaltige Gefahren. Aber selbst der Rückgriff auf den Mayflower-Mythos ist ein relativ neues Phänomen. So dankt der 34. Präsident der USA Dwight D. Eisenhower in seiner Rede zum Thanksgiving Day 1956 explizit den Pilgrim Fathers als Gründer der Nation. Er tut dies in einer Zeit, in der die USA sich nach dem 2. Weltkrieg als Gesellschaft neu zusammenfinden müssen und die Geschichte der Mayflower beinhaltet Erzählungen von Zusammengehörigkeit, Überwindung schwerer Zeiten und Glaube an die Demokratie. In heutiger Zeit steht die Mayflower auch für eine eurozentrische Geschichte des Kolonialismus, bei der die Perspektive der Native Americans zum Großteil ignoriert wird. Beide Interpretationen sind von ihrem jeweiligen Standpunkt und Kontext heraus nachvollziehbar. Der Blick in die Vergangenheit lässt viele verschiedene Lesarten zu und wird stets von der soziokulturellen und politischen Gemengelage beeinflusst. Was bleibt ist das Modell als Projektionsfläche einer aktiven, fluiden Geschichtsschreibung.

Haben auch Sie …

… eine Aus- oder Einwanderungsgeschichte Ihrer Familie zu erzählen und möchten diese mit den dazugehörigen Objekten und Dokumenten dem Deutschen Auswandererhaus für seine Sammlung übergeben? Dann kontaktieren Sie bitte Dr. Tanja Fittkau unter der Rufnummer 0471 / 90 22 0 – 0

oder per E-Mail unter: t.fittkau@dah-bremerhaven.de

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