Objekt des Monats

Jedes Objekt in der Sammlung des Deutschen Auswandererhauses erzählt eine ganz persönliche Auswanderungs- oder Einwanderungsgeschichte. In dieser Rubrik stellen wir Ihnen jeden Monat ein anderes Objekt vor – eine Fotografie, ein Dokument oder ein persönliches Erinnerungsstück.

März 2023

Doppelseite in Kladde, 1926/27

Größe

32,9 x 21,2 cm

Material

Pappe, Papier, Bleistift

Schenkung

Sybille Dreeskamp

odm_marz_2023_schenkung_dreeskamp2i

Historische Einordnung

Um die Zeit seiner Auswanderung von Sachsen nach Chicago Ende 1926 legte der 19-Jährige Alfred Ernst Pönisch eine Kladde an, die er „Andenken und Erinnerungen“ betitelte. Sie enthält 18 von ihm beschriebene bzw. gestaltete Seiten: neben einer Sammlung von Fotografien (mit später teilweise entfernten Bildern) auch zwei umfängliche Gedichte. Das eine eine elegische Klage auf die eigene Jugend, das andere eine Satire auf die amerikanische Gesellschaft.

Die Elegie hatte als strenge lyrische Form im Deutschen um 1900 längst ausgedient. Vor ihrer Neuerfindung durch Rilke und Brecht ließ sich aber zumindest ihr Gestus des wehmütig und/oder sehnsüchtig ein Vergangenes beklagenden dichtenden Ichs immer noch unironisch nachahmen. Die satirische Spottdichtung dagegen dürfte sich zu allen Zeiten gerade unter Latein lernenden Gymnasiasten größter Beliebtheit erfreut haben.

Kurzbiographie

Alfred Ernst Pönisch kam am 7. März 1907 als siebtes Kind in Hainichen/Sachsen zur Welt und machte 1924 sein Abitur am dortigen Realgymnasium. Anschließend studierte er am Technikum Chemnitz bis 1926 Chemie. Noch im selben Jahr folgte er seinem älteren Bruder Martin nach Chicago in die USA – anders als in Deutschland hoffte er, dort eine gute Anstellung als Ingenieur-Chemiker zu finden. In der Tat kam er schnell in einer Seifenfabrik unter und verdiente gutes Geld. Nicht nur den „American Way of Life“ lernte er in seinem Appartement kennen, das er mit zwei anderen Eingewanderten aus Irland und Italien teilte – zeit seines Lebens blieb er seitdem ein Liebhaber italienischer Lebensart.

Auf seinem ersten „Heimaturlaub“ 1930 suchte er seine ehemalige „Tanzdame“ Gertrud wieder, mit der er sich im gleichen Jahr verheiratete. Die Pläne der beiden, gemeinsam in die USA zu gehen, wurden durch die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise durchkreuzt: Einen Tag vor der gebuchten Abreise aus Bremerhaven am 10. Oktober 1930 erließen die USA ein striktes Einreiseverbot für alle, die keine amerikanische Staatsbürgerschaft besaßen bzw. beantragt hatten. Dies traf Gertrud. Und so kam es, dass Alfred ohne seine Braut zuerst nach Chicago zurückkehrte – und 1931 dann für immer die USA verließ.

Anstellung fand er in Waldheim/Sachsen bei der Seifenfirma A.H.A. Bergmann. Nach Krieg und Kriegsgefangenschaft konnte er bei ihr, mittlerweile unter dem Namen „VEB Rosodontwerke Waldheim“ wieder anfangen. Auf politischen Druck hin verließ er 1957/58 die inzwischen nach ihrem erfolgreichsten Produkt umbenannten „Florena-Werke“. Am 30. November 1981 verstarb er in Waldheim/Sachsen.

Bedeutung des Objekts

Elegie und Satire nebeneinander in der Kladde – sicher nicht zufällig erstere in lateinischer, letztere in deutscher Ausgangsschrift niedergeschrieben – vermitteln den Eindruck eines jungen Mannes, der in einer Situation großer Verunsicherung, just nach der „Auswanderung“, auf die ihm noch in der Schulzeit vermittelte klassische Bildung und Stereotype zurückgriff. So schrieb der 19-Jährige (!), in der „Rückblick“ betitelten Elegie, über sich selbst, Motive der Alterslyrik mit denen klassischer Exildichtung verbindend:

 

Verweht die Zeit der ungetrübten Freude

verrauscht sind all die Lieder, all der Wein,

des Lebens herbe Faust muß ich jetzt fühlen

im fremden Land, nicht in der Heimat sein.

Mit Wehmut, sehnsuchtsvollem Herzen

denk ich an jene Zeit genung,

nichts ist im fremden Lande mir davon geblieben,

als eine süße glänzende Erinnerung.

 

In dem Dokument, das die UNESCO ihrer Ausrufung des 21. März zum World Poetry Day zugrunde legte, ist treffend bezeichnet, welche psychologische Funktion Dichtung ausüben kann: Dichtung sei „ein gesellschaftliches Bedürfnis, das insbesondere junge Menschen dazu anregt, zu ihren Wurzeln zurückzukehren (to return to their roots), und ein Mittel, das ihnen erlaube, sich in einer Zeit, in das äußere Leben sie unwiderstehlich von sich selbst weglockt, mit ihrem Selbst zu beschäftigen.“ In diesem Sinne dürfte Migration allemal eine ‚gute Zeit für Lyrik‘ bedeuten – jedenfalls was das Bedürfnis zur Produktion von Versen angeht.

Haben auch Sie …

… eine Aus- oder Einwanderungsgeschichte Ihrer Familie zu erzählen und möchten diese mit den dazugehörigen Objekten und Dokumenten dem Deutschen Auswandererhaus für seine Sammlung übergeben? Dann kontaktieren Sie bitte Dr. Tanja Fittkau unter der Rufnummer 0471 / 90 22 0 – 0

oder per E-Mail unter: t.fittkau@dah-bremerhaven.de

Archiv: Bisherige Objekte des Monats