Objekt des Monats
Jedes Objekt in der Sammlung des Deutschen Auswandererhauses erzählt eine ganz persönliche Auswanderungs- oder Einwanderungsgeschichte. In dieser Rubrik stellen wir Ihnen jeden Monat ein anderes Objekt vor – eine Fotografie, ein Dokument oder ein persönliches Erinnerungsstück.
Mai 2021
Amtliche Bescheinigung aus dem Jahr 1968
Material | Papier |
Maße | 14,7 cm x 20,6 cm |
Schenkung | Alojzija Wilmes |
© Sammlung Deutsches Auswandererhaus
Historische Einordnung
Der 1. Mai ist nicht nur der Tag der Arbeit, sondern auch der des Fischbrötchens – eine Kombination, die besser nicht nach Bremerhaven passen könnte. Ab den 1950er Jahren wächst die Industrie in Westdeutschland, und mit ihr die Nachfrage nach immer mehr Arbeitskräften. Bis 1973 wirbt die Bundesrepublik darum Arbeiter:innen aus Spanien, Griechenland, Marokko, der Türkei, Jugoslawien, Portugal und Tunesien an. 1973, kurz vor dem Anwerbestopp, sind 2,5 Millionen Menschen in sozialversicherungspflichtigen Jobs angestellt, die keinen deutschen Pass besitzen. In Bremerhaven ist es besonders die fischverarbeitende Industrie, die auf die so genannten Gastarbeiter:innen angewiesen ist.
Kurzbiographie Alojzija Wilmes
Ende der 1960er Jahre erfährt die 24-jährige Alojzija Pušnik (heute: Wilmes) aus Dravograd in Jugoslawien (heute: Slowenien) durch einen Aushang des örtlichen Arbeitsamts, dass die Firma Nordsee in Bremerhaven weibliche Arbeitskräfte für einen Zeitraum von einem Jahr sucht. Die junge Frau hat bisher kein leichtes Leben gehabt. Ihre Eltern sind geschieden, was sich auf den Umgang mit ihren Kindern auswirkt. Kurzentschlossen meldet sich die junge Frau auf die Anzeige und wird eingestellt. Ihr Vater gibt ihr mit auf den Weg, dass sie in Deutschland nicht vergessen soll, woher sie kommt.
Bedeutung des Objekts
Es handelt sich bei diesem Objekt um eine Bestätigung des Dravograder Arbeitsamtes, dass die Verkäuferin Alojzija Pušnik einen einjährigen Arbeitsvertrag von August 1968 bis August 1969 bei Nordsee in Bremerhaven unterzeichnet hat.
Am 8. August 1968 kommt Alojzija am Bremerhavener Bahnhof an. Dort werden sie und ihre zukünftigen Kolleginnen vom jugoslawischen Konsul und Vertreter:innen der Firma Nordsee empfangen und zu einem Wohnheim gebracht. In den nächsten Tagen zeigt man ihnen die Stadt und rüstet sie mit Arbeitsbekleidung aus: Kittel, Haube, Gummistiefel, -schürze und -handschuhe. Zudem erhalten sie ein Ansteckschild mit ihrer Personalnummer. Alojzijas Nummer ist die 6191. Damit wird sie von nun an gerufen. Andere Mitarbeiter:innen tragen ebenfalls eine Nummer, die deutschen Meister hingegen besitzen ein Namensschild und werden entsprechend auch mit ihrem Namen angesprochen.
Für Alojzija ist das eine Zumutung, die sie sich nicht gefallen lässt. Ihre Mutter war während des Zweiten Weltkriegs Gefangene in einem deutschen Konzentrationslager gewesen, in dem Alojzija auch geboren wurde. Wenn sie mit ihrer Nummer angesprochen wird, reagiert sie nicht – und sie überzeugt ihre jugoslawischen Kolleg:innen, es ihr gleich zu tun. Als Nordsee einen Dolmetscher kommen lässt, erklärt sie:
„Die Leute im KZ hatten eine Nummer, meine Mutter hatte eine Nummer am Unterarm. Ich hab‘ gesagt: Ich habe einen Namen. Ich bin hier keine Nummer. Dann geh‘ ich wieder nach Hause.“
Mit ihrem Widerstand hat die junge Frau Erfolg: Sie und die Kolleginnen bekommen Namensschilder. Es wird nicht das einzige Mal bleiben, dass sich Alojzija Pušnik gegen diskriminierende Behandlung wehrt.
Tatsächlich bleibt Alojzija Pušnik, heute Alojzija Wilmes, nicht nur bis zum August 1969 in Deutschland, wie es die amtliche Bescheinigung ursprünglich vorsah. Sie lebt bis heute in Deutschland und wohnt mittlerweile in Spaden.
Haben auch Sie …
… eine Aus- oder Einwanderungsgeschichte Ihrer Familie zu erzählen und möchten diese mit den dazugehörigen Objekten und Dokumenten dem Deutschen Auswandererhaus für seine Sammlung übergeben? Dann kontaktieren Sie bitte Dr. Tanja Fittkau unter der Rufnummer 0471 / 90 22 0 – 0 oder per E-Mail unter: t.fittkau@dah-bremerhaven.de