Objekt des Monats

Jedes Objekt in der Sammlung des Deutschen Auswandererhauses erzählt eine ganz persönliche Auswanderungs- oder Einwanderungsgeschichte. In dieser Rubrik stellen wir Ihnen jeden Monat ein anderes Objekt vor – eine Fotografie, ein Dokument oder ein persönliches Erinnerungsstück.

Oktober 2022

Koffer, ca. 1940

Material

Pappe, Metall

Maße

37 cm x 63 cm x 17,5 cm

Schenkung

Siegmar Schulze

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(c) Sammlung Deutsches Auswandererhaus, Schenkung Siegmar Schulze

Historische Einordnung

Zwischen der Gründung der DDR 1949 und dem Bau der Berliner Mauer 1961 flohen zwischen 2,5 und 3 Millionen Menschen von dort in die BRD. Offiziell als Geflüchtete galten aber nur diejenigen, denen nach dem bundesdeutschen Notaufnahmegesetz vom 22. August 1950 eine „Gefahr für Leib und Leben“ drohte. 

Kurzbiographie

Aus Angst vor „Gefahr für Leib und Leben“ verließ 1954 auch der Landwirt und Reichsbahn-Mitarbeiter Gerhard Schulze aus Harsleben in der Nähe von Halberstadt (heute Sachsen-Anhalt). Dort hatte Schulze zwar eine gehobene Stellung innerhalb der lokalen LPG (Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft) inne, nutzte diese aber dafür, sich gegen den Eigentumsverlust der Kleinbäuer:innen – und damit gegen die staatlich forcierte Kollektivierung der Landwirtschaftsflächen - einzusetzen. Offenbar führten diese Bemühungen dazu, dass man ihn verhaften wollte. Der Dorfpolizist hatte Schulze vor seiner bevorstehenden Verhaftung gewarnt, weshalb es ihm gelang, rechtzeitig nach Berlin zu fliehen. Nachdem der erste Fluchtversuch nach Westberlin gescheitert war, kehrte Schulze in den Harz zurück. Dort gelang es ihm mithilfe lokaler Bäuer:innen, die ihn für seinen Einsatz in der LPG schätzten, die Grenze zu überqueren. Doch machte ihn seine Position in der LPG für die BRD verdächtig, weshalb er mehrfach verhört wurde und kurze Zeit in einem hessischen Gefängnis verbrachte.

Seine Frau Ella und seine beiden kleinen Kinder blieben zunächst zurück und waren ab diesem Zeitpunkt den Schikanen der DDR-Behörden ausgesetzt. Ella Schulze wurde unerlässlich nach dem Aufenthaltsort ihres Mannes befragt. Um den Druck auf sie zu erhöhen, brachte man ihren siebenjährigen Sohn Siegmar in ein Kinderheim nahe Magdeburg. Mehrere Wochen lang wusste die Familie nicht, wo genau sich der Junge aufhielt. Demütigungen und Schläge gehörten im Heim zu Siegmars Alltag im Heim. Durch den Einsatz seine Onkels Erwin Schulze sowie des Bürgermeisters von Harsleben konnte der Junge schließlich zu seiner Mutter und Schwester zurückkehren.

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(c) Sammlung Deutsches Auswandererhaus, Schenkung Siegmar Schulze

Bedeutung des Objekts

Erst im April 1955 bekam Ella Schulze Nachricht über den Verbleib ihres Mannes, der mittlerweile in Hessen Arbeit gefunden hatte. Dank einer Hochzeitseinladung erhielt sie die Erlaubnis, im Oktober 1955 in die BRD reisen zu dürfen – die Genehmigung galt jedoch nur für sie, nicht für die beiden Kinder. Innerhalb der Harslebener Dorfgemeinschaft setzten sich daraufhin mehrere Menschen dafür ein, dass die Kinder Ella Schulze schließlich doch in die BRD begleiten durften. Viel mitnehmen konnte die Familie nicht – offiziell war sie schließlich nur zu Besuch in Westdeutschland. Haupt-Transportmittel für die wenigen Habseligkeiten war der Reisekoffer, ursprünglich hergestellt für Ella Schulzes Vater. Siegmar Schulze erinnert sich noch heute gut an die Zugreise: Das Zugabteil war zu klein für die Anzahl an Reisenden, sodass auch der Koffer von der Familie als Sitz genutzt wurde. 

Die Ausreise markierte für Ella Schulze das Ende der Gängelung durch den Staat, aber auch den Abschied von ihren Eltern, die in der DDR blieben. Ihre Mutter verstarb nur wenige Jahre später, ohne ihre Tochter oder deren Familie wiedergesehen zu haben. 

Der Koffer machte nach der Einreise der Familie in die BRD mehrere Umzüge mit – als letztes gemeinsam mit dem 19-jährigen Siegmar nach Bremerhaven, wo er seine spätere Frau kennenlernte und bis heute wohnt. Für Siegmar Schulze ist der Koffer auch heute noch stark mit der Ausreise aus der DDR verknüpft.

Haben auch Sie …

… eine Aus- oder Einwanderungsgeschichte Ihrer Familie zu erzählen und möchten diese mit den dazugehörigen Objekten und Dokumenten dem Deutschen Auswandererhaus für seine Sammlung übergeben? Dann kontaktieren Sie bitte Dr. Tanja Fittkau unter der Rufnummer 0471 / 90 22 0 – 0

oder per E-Mail unter: t.fittkau@dah-bremerhaven.de

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