Die Erforschung der Gegenwart im Migrationsmuseum
Zum einjährigen Bestehen der neuen »Critical Thinking Stations« resümiert das Deutsche Auswandererhaus Bremerhaven erste Ergebnisse des partizipativen Forschungsprojekts
Wie lassen sich Menschen auch bei komplexen Themen zum Mitdenken und Mitdiskutieren ermutigen? Seit der Eröffnung seiner aktualisierten und erweiterten Dauerausstellung am 26. Juni 2021 erprobt das Deutsche Auswandererhaus Bremerhaven eigens entwickelte digitale »Denkräume«, die sogenannten »Critical Thinking Stations«. Fünf interaktive Stationen mit je drei Fragen laden dazu ein, die eigene Meinung zu Themen rund um Migration zu reflektieren und neue Perspektiven kennen zu lernen. Jetzt zieht das Museum ein erstes Fazit zu Antworten und Wirkung der Fragen für die Besucher:innen.
Reflexion des Erlebten fördern
Die »Critical Thinking Stations« ergänzen das faktenbasierte und emotionale Lernen in der Dauerausstellung, indem sie den Besucher:innen einen aktiven Anstoß zur bewussten Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Fragen bieten. Sie befinden sich in verschiedenen Ausstellungsräume, die jeweils unterschiedliche Themen der Migrationsgeschichte zeigen und ermöglichen die direkte Reflexion des dort Gesehen. Durch die Beantwortung der Fragen der Critical Thinking Stations nehmen die Besucher:innen partizipativ am Ausstellungsrundgang teil.
Dabei deckt das Spektrum der Fragen persönliche wie ethische, historische wie aktuelle Themen ab, die im Einwanderungsland Deutschland eine Rolle spielen. Ausgangspunkt sind jeweils die eigenen Wünsche und Gegenwartserfahrungen der Besucher:innen. Zur Frage »Möchten Sie im Ausland leben und arbeiten können?« etwa äußerten bisher über 39% ein klares »Ja«. Bei der Frage »Kontrolliert man Sie an internationalen Grenzen wegen Ihres Aussehens schärfer?« gaben über 81% der Befragten an, bisher von der Erfahrung verschont geblieben zu sein. Mit ihrem eigenen Blickwinkel konfrontiert, wird für die Teilnehmenden Migrationsgeschichte aktualisierbarer. In Politik und Wissenschaft vieldiskutierte Streitfragen werden zugänglicher.
Beispielsweise stammt eine Frage aus der post-kolonialen Geschichtskritik in dem Ausstellungsraum „Grand Central Terminal”, in dem es einerseits um das Ankommen europäischer Ausgewanderter in Nord- und Südamerika und Australien geht und andererseits um das Zusammenleben in Einwanderungsgesellschaften. Dort wird die Frage gestellt: »Wofür sollte die Person Christopher Columbus in Schulbüchern vor allem stehen?«.
»Die Frage ist ein Ausgangspunkt für die Erzählung der europäischen Geschichte der Überseeauswanderung. Diese Geschichte wird im Deutschen Auswandererhaus nicht als „Erfolgsgeschichte” präsentiert, sondern vielmehr als eine Geschichte der Gleichzeitigkeit und Kausalität: die Ausbeutung, Versklavung, Vertreibung und Ermordung der Natives einerseits, und der durch dieses große Unrecht und Leid möglichen Chancenverwirklichung verarmter, europäischer Mittel- und Unterschichten andererseits.«, erläutert Museumsdirektorin Dr. Simone Blaschka.
Wie relevant das Thema im Rahmen einer umfassenderen, gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit Kolonialismus auch in Europa noch immer ist, zeigen schon die zwei meistgewählten Antworten der Station: Immer noch 40% antworteten, Christopher Columbus solle für »Die Entdeckung Amerikas« stehen. Gegen diese eurozentrische Sichtweise stimmten 36% mit dem klar kritischen »Der Beginn des europäischen Kolonialismus« mit dem Columbus in Verbindung gebracht werden sollte.
Innovative Museumstechnologie
Die Technik hinter den Stationen steht im Zeichen einer organischen Einbettung in die Museumserfahrung, nicht als digitaler Kontrapunkt zur Ausstellung, sondern als innovative Ergänzung. Mit Touchscreens oder interaktiven Lichtprojektionen werden die »Critical Thinking Stations« sanft als Angebot im Raum herausgestellt. Wie die anderen Medienstationen der Ausstellung lassen sie sich über eine Chipkarte, die alle Besucher:innen beim Eintritt erhalten, aktivieren. Da jeder Chip eine eigene Kennung hat, erkennt das System beim Auflegen der Karte die:den jeweilige:n Besucher:in wieder – ohne persönliche Daten von ihm:ihr zu erheben. Über den Chip werden die gegebenen Antworten der Teilnehmer:innen in einer Datenbank gespeichert. Jede:r Besucher:in kann sich so die von ihm:ihr bereits gegebenen Antworten anzeigen lassen, bislang offen gebliebene Fragen nachholen und Antworten auch wieder revidieren. Der Ausstellungsbesuch wird so auch zur individuellen »Denk-Reise«.
Revidieren als Zugewinn an Wissen begreifen
Am Ende des Ausstellungsrundgangs können die spontan gegebenen Antworten im »Forum Migration« noch einmal vertieft und überdacht werden. Zu komplexen Sachfragen bieten »Deep Dives« dabei unterschiedliche Sichtweisen aus Wissenschaft und Gesellschaft als kurze Audio- und Videostatements. Entsteht der Wunsch Urteile zu revidieren, ist hierfür bewusst ein Freiraum geschaffen, indem Antworten geändert werden können. Anonym gespeichert und statistisch aufbereitet, präsentiert eine rund sechs mal drei Meter große Videowand minutengenau die Antworten aller bisherigen Teilnehmer:innen: Die Diagramme sollen eine Verortung des eigenen Standpunkts ermöglichen und zum Austausch mit anderen einladen.
Christoph Bongert, der als Mitarbeiter des Deutschen Auswandererhauses an der inhaltlichen Entwicklung der Stationen beteiligt war, reflektiert das Konzept, das Fragen und Funktionsweisen zusammenbringt: »Die Critical Thinking Stations können die Gebundenheit des Denkens an den je eigenen – beispielsweise historischen und sozialen – Standort vor Augen führen. Gleichzeitig sind sie aber nicht blind dafür, dass Denken vermag, Positionen zu wechseln oder zu verbinden. Wir sind eben nicht an – und mit - unserem Standpunkte verwurzelt. Miteinanderdenken macht beweglich.«
Rückmeldungen und Zahlen
In dem Jahr seit der Eröffnung hat das Team des Deutschen Auswandererhauses eine Vielzahl an Rückmeldungen zu den »Critical Thinking Stations« sammeln können. Mehr als 2.000 Menschen haben die digitalen Installationen seit dem 26. Juni 2021 genutzt, um ihre Antworten zu teilen, wobei sowohl Jugendliche und junge Erwachsene zwischen 15 und 35 Jahren als auch Erwachsene zwischen 45 und 64 Jahren reges Interesse an einer aktiven Teilnahme zeigten. Von den Antwortenden lebten 88% im Land ihrer Geburt und nannten Medien (53%) und Alltagerfahrungen (39%) als wichtigsten Einfluss auf ihre bisherige Meinung zum Thema Migration.
In den Rückmeldungen Teilnehmender an die Wissenschaftler:innen wurde die Nutzung der »Critical Thinking Stations« als überaus bereichernd gelobt: Viele schätzen die Kontextualisierung der historischen Ausstellung durch aktuelle Fragen. Auch die Verortung der eigenen Position in der Statistik wurde sehr positiv bewertet.
Das Deutsche Auswandererhaus strebt eine ausführliche Analyse der Critical Thinking Stations im Sommer 2023 an.
Ein museum4punkt0-Projekt
Konzept, Entwicklung und Erprobung der »Critical Thinking Stations« sind Teil des bundesweiten, von der Stiftung Preußischer Kulturbesitz gesteuerten und koordinierten Verbundprojektes »museum4punkt0 – Digitale Strategien für das Museum der Zukunft« . museum4punkt0 wird gefördert von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Bundestages. Gestaltet von Andreas Heller Architects & Designers, wurde das System der »Critical Thinking Stations« von der Hamburger Firma gemelo programmiert. Einrichtungen, die an einer Nachnutzung interessiert sind, können den Quellcode der Anwendung auf GitHub finden.
Downloads
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292.21 KB – 2364×1773px – © Deutsches Auswandererhaus / Foto: Magdalena Gerwien
Die »Critical Thinking Stations« sind thematisch passend in die Ausstellung integriert: hier etwa die post-kolonialen Fragestellungen nach der historischen Rolle von Columbus, die sich im Ausstellungsbereich zur US-amerikanischen Einwanderungsgesellschaft findet.
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308.02 KB – 1562×1342px – © Deutsches Auswandererhaus / Foto: Werner Huthmacher
Die Antworten aller Besucher:innen können auf einer großen Videowand am Ende des Rundgangs mit den eigenen Positionen verglichen werden.
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266.93 KB – 1280×822px – © Deutsches Auswandererhaus / Foto: Magdalena Gerwien
An fünf Stationen in der Dauerausstellung lässt sich die eigene Meinung zu Migrationsthemen digital und interaktiv hinterfragen.